T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

William Harrison Ainsworth: »Chetwynd Calverley«, 1879
von Mirko Schädel



William Harrison Ainsworth: Chetwynd Calverley, Berlin: Otto Janke 1879, 3 Bände


William Harrison Ainsworth, 1805–1882, gilt als eine Art Erneuerer des Räuberromans und Impulsgeber des Kriminalromans. Sein Spätwerk ist leider ziemlich unbekannt geblieben und vernachlässigt worden, denn der Autor kam schlicht aus der Mode. Während er in den 1840er Jahren noch tonangebend war, müssen die 1870er Jahre für Ainsworths Erfolgsbilanz ziemlich ernüchternd gewesen sein.

Viele der Bücher, die ich hier auf der Seite vorstelle, habe ich bereits vorher irgendwann einmal gelesen, so auch diesen späten Roman Chetwynd Calverley, der mir damals außerordentlich gut gefallen hat – jetzt aber deutlich schwächeren Eindruck hinterläßt. An diesem Roman wird deutlich, daß Ainsworth zwar noch gelegentlich in die altertümelnde Kolportage der 1840er Jahre verfällt, aber insgesamt sich doch weitestgehend davon emanzipiert und weiterentwickelt hat.

Der Roman ist nach seiner Titelfigur benannt, jenen Chetwynd Calverley, der seine Jugend mit Vergnügungen und leichtfertigem Glücksspiel vertan hatte, so daß er bei seinem Vater mehr oder weniger in Ungnade fiel. Als Chetwynd das Mündel seines Vaters namens Teresa zu heiraten beabsichtigt und er die junge Braut geradezu drängte sehr rasch die Hochzeitsfeierlichkeiten durchzuführen, stieß der junge Mann auf bedenklichem Widerstand seiner Braut. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die zur Folge hatte, daß die beiden jungen Leute ihr Wort einander zurückgaben und ihre Verlobung als gelöst betrachteten. Chetwynds Vater, der vermittelnd eingreifen wollte und seinen Sohn aufforderte nachsichtig und geduldig zu sein, stößt auf Granit. Stattdessen streiten sich nun auch noch Vater und Sohn, so daß der alte Calverley erklärt, daß er dann selbst sein Mündel Teresa heiraten werde.

Chetwynd, den diese Absicht ärgert und sie gleichzeitig für absurd hält, ist recht verwundert, als sein Vater tatsächlich seine ehemalige Braut zur Frau nimmt. Chetwynd ist in dauernder Geldverlegenheit und zieht sich zurück, doch als er nach einigen Monaten aus Italien zurück an den heimischen Herd eilt, erfährt er, daß sein Vater im Sterben liegt. Das Testament wird noch eilig aufgesetzt in dem das gesamte Vermögen an Teresa fällt, die allerdings einen kleinen Teil des Geldes an ihre beiden Stiefgeschwister und sozusagen Stiefkinder auszahlen soll. Doch Chetwynd, der mit einem alten Dienstboten  befreundet ist, schlägt das Geld aus der Hand seiner Stiefmutter konsequent aus. Er wolle lieber sterben, als Geld aus dieser Hand zu nehmen, vor allem auch weil jener Dienstbote ihm gegenüber den hanebüchenen Verdacht äußerte, daß der alte Calverley womöglich langsam vergiftet worden sei – aber niemand sich getraut habe der Sache auf den Grund zu gehen, da Teresa den seriösesten und untadeligsten Ruf genießt.

Chetwynd geht es finanziell immer schlechter, das Elend klopft langsam an seine Tür, mit den letzten Gewinnen aus dem Glücksspiel zahlt er seine letzten Schulden – bis er an einen Punkt des Selbstmitleids und der Verzweiflung gelangt, der ihm nur einen Ausweg aufzeigt: Selbstmord. Währenddessen festigt sich allerdings eine Allianz von Freunden, die Chetwynds Zustand erahnen und ihm helfen wollen. Natürlich gehört zu diesen Helfern Chetwynds Schwester Mildred, die bislang immer mit ihrer Stiefmutter Teresa koalierte, aber langsam Zweifel gegenüber der Integrität dieser Dame gewinnt, dann Emmeline Barfleur, die seit Jahren unglücklich in Chetwynd verliebt ist und nunmehr eine reiche Erbschaft antritt, sowie Sir Bridgenorth Catlton, der eine instinktive Abneigung gegen Terese Calverley hegt. Carlton wird von den beiden jungen Damen Emmeline und Mildred geradezu gedrängt nach Chetwynd zu suchen und ihm Hilfe angedeihen zu lassen, doch Chetwynd lebt bereits seit einiger Zeit unter einem falschen Namen in London und nun, da er von einer Brücke springen will um sein Leben zu beenden, begegnet er einem einfachen Handwerker, nämlich Mr. Hartley, einem Steinmetz, der ihn von seinem Vorhaben abbringt und sich seiner annimmt.

Hartley und seine Familie kümmern sich rührend um ihren Gast, der offensichtlich einer besseren Gesellschaftsschicht angehört, und Chetwynd genießt den einfachen Lebensstil der kleinbürgerlichen Umgebung, er läßt sich von Hartleys Freunden überreden eine Stelle als Dienstbote anzunehmen, um in Livree und mit gepudertem Haar seinen Mann zu stehen. Dazu läßt Chetwynd sich auch seinen prächtigen Vollbart abnehmen.

Allein die Verwandlung von einem Mitglied der besseren Schichten zu einem Dienstboten ist in der viktorianischen Zeit ein kaum denkbares Ereignis, das Ainsworth resolut zu einem Thema macht. Doch die letzte Konsequenz, nämlich Chetwynd als arbeitender Lakai, bleibt uns dann leider doch versagt. Am Abend vor seinem Dienstantritt erscheint Sir Catlton und macht dem ganzen Spuk ein Ende, er überredet Chetwynd heimzufahren und sich mit seiner Schwester und Emmeline zu beraten. Die beiden jungen Damen sind entzückt, daß Chetwynd seine Ankündigung eines Selbstmords nicht wahr gemacht hat, und sie überreden ihn ein neues Leben zu beginnen – angefangen damit, daß er sich mit seiner Stiefmutter aussöhnt. Tatsächlich hat sich das heiße Temperament Chetwynds abgekühlt und er geht auf alle Bedingungen ein. Kurz darauf verlobt er sich heimlich mit Emmeline, doch der Rest des zweiten Drittels dümpelt etwas dahin. Der Leser spürt, daß sich etwas zusammenbraut, weiß aber auch nicht genau in welche Richtung es gehen könnte.

Im letzten Drittel dreht Ainsworth dann doch an den Registern, denn Teresa wird dem Leser als Giftmörderin vor Augen geführt, so daß der damalige Verdacht äußerste Plausibilität erfährt. Teresa lernt einen Lord kennen, der die Aussicht auf ein reiches Erbe hat, und verliebt sich in diesen Mann. Doch Teresas Anwalt weist sie kurze Zeit später daraufhin, daß das Testament ihres Gatten eine Klausel enthält, die der Witwe eine Wiederverheiratung fast unmöglich macht, denn im Falle einer Wiederverheiratung verzichtet Teresa auf ihr reiches Erbe, und Landsitz und Vermögen würden an Mildred Calverley, Chetwynds Schwester, fallen.

Also beschließt Teresa ihre Stiefschwester und -tochter zu beseitigen, aber leider entdeckt der Arzt dieses Verbrechen und stellt Teresa zur Rede. Tatsächlich findet Dr. Spencer in Teresas Räumen das Gift und diese gesteht ihr Verbrechen. Mildreds Leben wird noch einmal gerettet, denn es ist bereits der zweite Giftanschlag auf Mildreds Leben, den Teresa in Szene setzte. Teresa, aller Illusion beraubt, vergiftet sich nunmehr selbst um ihrem traurigen Dasein ein Ende zu setzen.

Teresas letzte Handlung ist das Verfassen ihres Testaments, in dem sie den rechtmäßigen Besitzern, nämlich Mildred und Chetwynd, Haus und Vermögen zu gleichen Teilen vermacht. Auch den Mord an ihren Gatten beichtet Teresa noch kurz vor ihrem Tod. Anschließend kommt es zu vier parallel stattfindenden Hochzeiten. 

Spannung gibt es in diesem Buch zuhauf, doch liest sich der Roman eher wie eine Adaption von Das Haus von Eaton Place, einer Fernsehserie der 1970er Jahre. Ainsworth behandelt in seinem Roman fast gleichberechtigt zwei Milieus, das des Adels und das des Kleinbürger- und Dienstbotentums. Natürlich nutzt Aisnworth Motive der Kolportage, die er seit Urzeiten beherrscht, doch mischt sich in diesem Roman ein neuer Ton, der Ton seiner vor allem weiblichen Konkurrenten Mrs. Braddon und Mrs. Wood, aber auch eines Charles Dickens – doch beherrschten diese Konkurrenten ihr Sujet besser als der alte Ainsworth. Mrs. Braddon ist routinierter, Mrs. Wood psychologisch feinsinniger, und Dickens ist technisch und psychologisch allen anderen überlegen. Dennoch zeigt eben dieser Roman, wie sehr Ainsworth darauf bedacht war sich der gegebenen literarischen Mode anzupassen und sich einen neuen Mantel anzulegen.

Insgesamt ist Chetwynd Calverley eine Art märchenhafter Gesellschafts- und Kolportageroman, der allerdings starke Elemente des Kriminalromans enthält. Die phantastischen Elemente sind allerdings nur rudimentär vorhanden. Nur an zwei, drei Stellen genehmigt sich Ainsworth hier Anleihen an den Schauerroman. Einmal handelt es sich um eine Prophezeiung, nämlich daß eine alte, in einen schwarzen Teich gefallene Eiche irgendwann aus dem Wasser wieder auftaucht, und dann ein Unglück geschähe. Prompt stirbt an jenem Tag, als der Stamm an die Wasseroberfläche getrieben wird, der Hausherr eines alten Herrensitzes. An dem nämlichen Herrensitz zeigen sich in der Nacht unserem Helden Chetwynd zwei Gespenster, die miteinander Karten spielen. Und ganz am Schluß des dritten Bandes behauptet eine Dienstbotin, sie habe Teresa, die Giftmörderin, in der Nacht mit einer Phiole in der Hand an ihrem Toilettentisch gesehen, jene Teresa, die wenige Tage zuvor sich selbst gerichtet hatte.

Der ganze Roman ist überwiegend in einem biedermeierlichen, behäbigen, Rechtschaffenheit vortäuschenden und moralinen Ton verfaßt. Die Übersetzung ist anonym verfertigt, es deutet einiges darauf hin, daß womöglich ein englischer Muttersprachler die Übersetzung angefertigt hat, und diese dann von einem deutschen Muttersprachler bearbeitet worden ist, denn der Satzbau wirkt etwas befremdlich und hölzern.

Man sollte mich jedoch nicht falsch verstehen, ich habe bei der ersten Lektüre vor vielen Jahren noch nicht viele dieser Kolportageromane gelesen und war damals recht begeistert von dem Buch. Ich habe es auch jetzt gern noch einmal gelesen, doch mit meiner hinzugewonnenen Erfahrung hat sich diese Begeisterung etwas gedämpft.