T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Archibald C. Gunter: »Als Herr Woodhouse erwachte«, 1909
von Mirko Schädel



Archibald C. Gunter: Als Herr Woodhouse erwachte, Leipzig und Dresden: Moewig und Höffner 1909, Kriminalromane aller Nationen Band 24, 191 Seiten


Archibald C. Gunter, 1847–1907, veröffentlichte dieses Buch unter dem Titel Dr. Burton in seinem Todesjahr 1907. Die erste Erzählung dieses Buchs mit dem Titel Als Herr Woodhouse erwachte ist ein kleines Mystery-Juwel. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines erfolgreichen, ziemlich langweiligen und spießigen Arztes namens Stohl erzählt, der eine gutgehende Praxis in New York unterhält und zudem Vorlesungen in Medizin hält.

Stohl hat zwei sehr junge Assistenten in seiner Praxis, darunter jenen Dr. Burton, der ein leichtlebiger Pfiffikus zu sein scheint, der jedem Rock hinterher läuft und ein Faible für schnelle Automobile pflegt. Eines Tages wird ein alter Kunde von Stohl in die Praxis gebracht, dieser Patient ist der erfolgreiche Bauunternehmer Woodhouse, der auf der Baustelle verunglückt ist. Dem Patienten ist ein schweres Bauholz auf den Schädel gekracht, er ist bewußtlos. Unter Hinzuziehung eines Gehirnspezialisten operiert Stohl seinen Patienten, doch als dieser erwacht scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, denn er verwechselt seine Gattin mit dem anwesenden Kindermädchen seines Haushalts, küßt diese zärtlich und scheint seine Gattin zu ignorieren.

Stohl und sein Gehirnspezialist schreiten zu einer zweiten Operation in der Meinung, der Patient habe noch einen Splitter im Kopf, der müsse entfernt werden, dann würde das Bewußtsein des Patienten Woodhouse wieder völlig in Ordnung kommen – und so ist es auch.

Als Stohl diesen Fall anonymisiert für eine seiner Vorlesungen nutzt, und Dr. Burton sich diese Vorlesung anhört, bewirbt sich letzterer mit einem Empfehlungsschreiben seines Vaters bei Stohl – und da Dr. Burtons Vater ein außerordentlich einflußreicher und gesellschaftlich anerkannter Mann ist, kann Stohl diesem Anerbieten nicht widerstehen und läßt Dr. Burton als Assistenzarzt in seiner Praxis parlieren.

Auch wenn Stohl mit der leichtlebigen Art seines Assistenten und der schnodderigen Sprache nicht recht warm wird, kann er doch an der fachlichen Kompetenz Dr. Burtons wenig aussetzen. Doch Dr. Burton scheint besonderes Interesse für die Familie Woodhouse zu entwickeln und nutzt die Rekonvaleszens des Bauunternehmers um sich in dem Haushalt umzusehen, wo Dr. Burton auch auf Helene, das Kindermädchen der Familie Woodhouse trifft und sich rührend um deren Wohlwollen bemüht. Nur Mr. Woodhouse scheint dieses Interesse des jungen Dr.  Burton nicht recht zu sein und wünscht den jungen Arzt zum Teufel.

Einige Zeit später wird Helene, das Kindermädchen, tot in einem Bauwagen vor einer Großbaustelle des Unternehmers aufgefunden. Stohl, der das Interesse Dr. Burtons für Helene bemerkt hat, kommt ein schrecklicher Verdacht.

Dr. Burton wiederum scheint nervös und fahrig und bittet um etwas Zeit, er sei vom Untersuchungsrichter gebeten worden sich die Leiche näher anzusehen. Auch Stohl sieht sich kurz nach der Obduktion die Leiche an und entdeckt ein paar seltsame Spuren.

Doch Dr. Burton, der auch den Tatort mit dem Coroner besichtigt, ist bereits erheblich weiter mit seinen Erkenntnissen und lädt Stohl zu einem dringenden Gespräch am Abend ein. Stohl, der immer noch einen Verdacht gegen seinen Assistenten hegt, kommt der Aufforderung nach und Dr. Burton macht ihn mit weiteren Besuchern bekannt, die Dr. Burton ganz beiläufig und unauffällig auszuhorchen versteht. Langsam dämmert es Stohl, daß sein Assistent offenbar kein Mörder ist, im Gegenteil, Dr. Burton scheint sich als Detektiv zu betätigen.

Dr. Burton wiederum beginnt Stohl über seine tiefschürfenden Erkenntnisse von der Familie Woodhouse aufzuklären, die da lauten: Mr. Woodhouse, ehemals Missionar einer Mormonen-Sekte, betrieb Vielweiberei, nur seine erste Gattin wußte nichts davon und durfte nichts davon wissen, da sie das Vermögen in die Familie gebracht hatte. Mr. Woodhouse heiratete während einer mehrmonatigen Trennung von seiner Frau ein zweites Mal, eine Mormonin, jenes Kindermädchen Helene.

Doch durch einen Zufall erfuhr Mr. Woodhouse erste Gattin von diesem Geheimnis – und ertrug diese Tatsache nicht. Sie plante akribisch den Mord an ihrer Kontrahentin, lockte das Mädchen auf die Baustelle in jenen Bauwagen, präparierte die Strom- und Telefonleitung derart, daß Helene beim Abnehmen des Telefonhörers einen elektrischen Schlag erhalten mußte, der ihr das Leben kostete. In Erwartung, daß Mrs. Woodhouse für diesen Mord aus genannten Gründen kaum zur Rechenschaft gezogen werden wird, bemüht sich Dr. Burton um die Vertuschung der Angelegenheit. Lediglich Mrs. Woodhouse Gatte verläßt das gemeinsame Haus, sie setzt die Scheidung durch und Mr. Woodhouse zieht nach Utah, wo er sich seinen alten Glaubensbrüdern und -regeln erneut anschließt. Stohls Urteil über Dr. Burton verändert sich völlig, er sieht seinen Assistenten mit anderen Augen.

Die Übersetzung holpert doch etwas, obwohl die Übersetzerin Elise von Kraatz mindestens 107 Kriminalromane in jener Zeit aus dem Schwedischen, Dänischen, Englischen und Niederländischen übersetzt hatte. Bemerkenswert fand ich ihre Beschreibung eines beweglichen Architekten-Schuppens, eine aus der Not geborene und recht hilflose Umschreibung für einen Bauwagen, wie wir ihn heute kennen. Entweder es hat solche Bauwagen zu jener Zeit in Deutschland gar nicht gegeben, oder es gab sie, doch fehlte es an einer treffenden Bezeichnung dafür.

Die zweite Erzählung in diesem Band mit dem Titel Die baumelnde Schnur ist dagegen nicht nach meinem Geschmack. Es geht um eine Kindesentführung verquickt mit einer Scheidungssache – und der Detektiv Burton hat in dieser Geschichte einen Doppelgänger, der zufällig mit ihm im selben Haus wohnt. Die Konstruktion der Erzählung schwächelt, die Wendungen und Verirrungen sind zu zahlreich und es macht keinen Sinn die Erzählung detailliert wiederzugeben, denn dann wäre ich bei etwa 90 Seiten.

Die Erzählungen sind insgesamt von Conan Doyle inspiriert. Unser Watson heißt in diesem Fall Dr. Stohl, und Sherlock nimmt in diesen New Yorker Erzählungen den Namen Dr. Burton an. Dabei ist es dem Autor darum zu tun möglichst überraschende Wendungen und Plots zu entwickeln um das Publikum zu unterhalten.