T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

George Moore: »Die Abtey von Grasville. Eine sehr interessante Geschichte«, 1799

von Mirko Schädel


anonym, das ist George Moore: Die Abtey von Grasville. Eine sehr interessante Geschichte, Prag: Josef Poltischen Buchhandlung 1799, 3 Theile, 242, 192, 174 Seiten, mit drei Kupfern


George Moore ist ein recht unbekannter Autor, seine Lebensdaten sind ebenfalls unklar. Man weiß nur, daß Moore im Umfeld von Ann Radcliffe einzuordnen ist. Seine Romane haben sich zum Teil wohl recht stark an den Werken Radcliffes orientiert.

Die Abtey von Grasville, 1799, ist ein spannender und bedrückender Schauer- und Sensationsroman, der die Urform des Kriminalromans mustergültig demonstriert und bereits an die frühen Newgate-Romane von Edward Bulwer-Lytton und Thomas Gaspey aus den 1820er und 1830er Jahre denken läßt, aber ebenso an die Sensationsromane der 1870er Jahre.

Wenn man bereit ist sich auf das damalige Schriftdeutsch einzulassen, dann wird man als Leser Zeuge der spannenden Geschichte der Familie Maserini. Alfred Maserini und seine Schwester haben gerade eben ihre Mutter zu Grabe getragen, als Alfred zu Besuch in einem Kloster sich in Clementine verliebt. Clementine ist die Tochter eines reichen französischen Edelmanns, der seine zwei jüngeren Töchter in ein Kloster abschob um seiner ältesten Tochter sein Vermögen und seinen Stand zu hinterlassen, da er keinen männlichen Erbfolger hat. Während die jüngere dieser Töchter namens Felicien sich recht gut im Kloster eingelebt hat, fremdelt Clementine mit dieser geweihten Stätte.

Alfred Maserini und seine Schwester Sisara überreden Clementine mit ihnen nach Italien zu fliehen, wo Alfred die junge Clementine, nötigenfalls gegen den Widerstand des Vaters, zu heiraten gedenkt. Nach etlichen Monaten im Kloster beschließt Clementine die Flucht mit den Geschwistern Maserini. Kurz zuvor stirbt jedoch Clementines Schwester Felicien, und so kommt das Gerücht auf, Clementine habe ihre Schwester mit Gift ermordet und sei dann entflohen.

Die Flucht ist gefahrvoll, strapaziös und abenteuerlich, doch am Ende gelangen die Maserini-Geschwister mit der geschwächten Clementine nach Italien. Alfred heiratet seine Clementine ehe er den Vater aufsucht, damit jeder mögliche Widerstand gegen diese Heirat unmöglich wird. Als er seine Schwester und seine Gattin bittet in einem Gasthof auf ihn zu warten um allein den väterlichen Haushalt zu sondieren, gerät Alfred in eine Schockstarre, denn sein Vater ist offenbar vor kurzem gestorben, und die Abtei von Grasville liegt verlassen und völlig abgeschlossen dar – während sich das Vermögen der Familie der Graf Ollifont, ein fieser Vetter, unter den Nagel gerissen hat, denn dieser unsympathische Verwandte behauptete, daß Alfred und Sisara Maserini auf ihrer Flucht aus dem Kloster getötet worden seien – und er, Graf Ollifont, nunmehr der einzig lebende Verwandte sei.

Da Alfred sich vorerst außerstande sieht seine Identität nachzuweisen, kann er nicht viel tun um den Familienbesitz zu fordern. Graf Ollifont scheint sich in Spanien aufzuhalten, und Alfred ist fast aller Barmittel ledig. Mit Hilfe eines Arztes, der ihm Kredit gewährt und ihm auch sonst hilfreich zur Seite steht, gelingt es Alfred den Schlüssel von der Abtei von Grasville von Graf Ollifant zu fordern. Mit seinem treuen Diener Eduard betritt Alfred das Haus seiner Vorväter, in dem ein Geist umgehen soll. Alfred will sich in dem Haus umsehen, doch verschwindet er spurlos in dem unübersichtlichen gotischen Gebäude. Der treue Diener Eduard ist verzweifelt, er holt Hilfe, doch sein Herr ist nicht aufzufinden. So muß Eduard Sisara und Clementine vom Verschwinden Alfreds berichten. Nun kann man sich denken, daß die zwei Frauen untröstlich sind, und die Abtei von Grasville – angesichts ihres unheimlichen Rufes – zerfällt zusehends. Niemand traut sich einen Schritt in das Gebäude zu setzen.

Clementine und Sisara leben fortan in Frankreich, und erstere war von Alfred schwanger. Clementine gebiert Zwillinge, die Tochter wird Mathilde und der Sohn nach seinem Vater Alfred genannt. Kurz nach der Geburt stirbt Sisara, so daß Clementine etwas Geld aus dem Vermögen Sisaras erbt. Die Kinder werden größer, und Clementine, die von ihrer Familie verstoßen wurde, lebt ein einfaches Leben bis ihr Sohn Alfred als Soldat in die Fremde geht. Clementine erkrankt daraufhin und will ihrem Sohn noch ein Geheimnis anvertrauen, doch bevor dieser das Sterbelager erreicht, verstirbt Clementine. Nun sind Alfred und Mathilde auf sich allein gestellt.

Alfred, der sehr auf die Ehre und die Tugendhaftigkeit seiner Schwester achtet, beschließt das Mädchen nach London zu schaffen, wo noch ein entfernter Verwandter lebt. Die Geschwister machen sich auf nach London zu Sir Anthony Peviquil, wo Alfred seine Schwester Mathilde unterbringen möchte. Doch der Haushalt der Periquils, der aus einem erwachsenen Sohn, einer erwachsenen Tochter und den Eltern besteht, ist ein luxuriöser Treffpunkt von Gecken und eitlen Menschen der oberen Schichten, die ein lasterhaftes Leben führen. Alfred selbst wird Opfer dieses Treibens, denn der Sohn des Hauses Periquil macht den unschuldigen Alfred mit einer Londoner Spielhölle bekannt, wo Alfred langsam aber sicher der Spielsucht erliegt. Auch Alfreds Schwester Mathilde ist in Gefahr, denn einige unangenehme Verführer machen Mathilde ob ihrer Schönheit den Hof. Als auch noch Graf Ollifont auftaucht und sich an Mathilden heranmacht, beginnt Alfred nachzudenken, denn er fand in den Unterlagen seiner Schwester einen Brief aus dem Nachlaß seiner Mutter, der jenes Geheimnis zum Inhalt hat, das seine Mutter ihm nicht mehr auf dem Sterbebett anvertrauen konnte – nämlich daß Graf Ollifont vermutlich der Mörder seines in der Abtei von Grasville verschwundenen Vaters sei…

Doch einer der Verehrer Mathildens meint es ernst mit der jungen Dame, er ist der gute Geist und Beschützer des Mädchens. Dieser Herr Milverne stammt aus bester Familie und hat sich in Mathilde verliebt. Ihm ist ein Komplott des Grafen Ollifont zu Ohren gekommen und hintertreibt dieses geschickt mit Hilfe Alfreds. Als Alfred jedoch die geplante Entführung seiner Schwester durchkreuzt, schießt er auch Graf Ollifont nieder. Darauf fliehen Alfred und Mathilde nach Italien, denn in Frankreich können sie nicht unterkommen, da Graf Ollifont zu viele Freunde in Frankreich sein eigen nennt. Eine Nachricht erreicht Alfred noch, nämlich daß Ollifont nicht tot ist, sondern nur schwer verletzt – und es ist unklar, ob er überleben wird. Mit dieser Flucht nach Italien endet der erste Teil des Romans.

Wenn man den ersten Teil gelesen hat, ist man bereits konditioniert für den zweiten Teil, der die Flucht von Alfred, Mathilde, dem treuen Diener Leonard nachzeichnet – und eine weitere Person namens Agnes einführt, die ebenso verlassen und flüchtig ist, wie der Rest des Trios. Alfred wird per Haftbefehl gesucht, doch gelingt es ihnen nach Italien zu entkommen und sich in dem Spukhaus der Abtei von Grasville zu verstecken. Dort herrschen offenbar Gespenster und Geheimnisse, und Mathilde findet kaum Schlaf, denn ihre Nächte werden von Depression und Alpträumen beherrscht. Ihr Bruder und der Diener Leonard haben Geheimnisse, die sie um keinen Preis verraten wollen, so daß Mathilde noch melancholischer wird, denn sie spürt instinktiv, daß ihr Bruder nicht offen ist und ihr Wesentliches verschweigt. Aber auch die Stimmungsschwankungen ihres Bruders bleiben Mathilde nicht verborgen und verunsichern sie zusätzlich. Die Atmosphäre ist äußerst beklemmend und die Stimmung dieser Kapitel nahezu depressiv. Außerdem besuchen unbekannte Männer in der Nacht die Abtei und ein Eremit, der in der Nachbarschaft lebt, gibt weitere Rätsel auf.

Alfred bemüht sich redlich den Geheimnissen der Abtei auf den Grund zu kommen, er besucht in der Nacht das Zimmer, in dem sein Vater ermordet worden sein soll. In einer dieser schaurigen, gewittrigen Nächte macht sich das Quartett auf den Ostturm aufzusuchen, wo häufig ab Mitternacht ein Licht und manchmal eine Gestalt zu sehen ist, die sich zum Fenster hinauslehnt.

Auch eine Stimme läßt sich hören, die aus dem Nichts zu kommen scheint. Eine marmorne Hand zeigt sich, die einen goldenen Schlüssel präsentiert. Alfred nimmt diesen Schlüssel an sich und übergibt diesen Mathilde, denn in dem Zimmer Mathildens befindet sich ein altertümlicher Schrank, der verschlossen ist und zu dem dieser Schlüssel gehören könnte. Als Mathilde den Schrank am folgenden Tag bei Tageslicht öffnet, findet sie Gold und Edelsteine, und einige Briefe und Schriften ihrer Vorfahren. Auch ein Brief ihres Vaters, der weitere Rätsel aufgibt und auf den Eremiten in der Nachbarschaft verweist, der offenbar tiefere Kenntnisse besitzt. Auch spielt dieser Brief auf die Verbrechen von Graf Ollifont an.

Mathilde beschließt ihrem Bruder von den Schriftstücken vorerst nichts mitzuteilen, stattdessen will sie den Eremiten aufsuchen um mit diesem über ihren Vater zu sprechen. Die Nacht darauf verläßt sie in tiefer Dunkelheit die Abtei. Sie begegnet einer geheimnisvollen Prozession von Männern, die einen Sarg zu Grabe tragen. Als sie die Höhle des Eremiten betritt, betet dieser gerade inbrünstig. Auf die Erzählung und die Fragen Mathildens reagiert der Eremit ausweichend und erklärt, daß er sie am folgenden Tag besuchen komme um ihr Aufklärung zu geben.

Dies ist in ganz groben Zügen der Inhalt des zweiten Teils. Die atmosphärische Wucht dieser Episoden ist bemerkenswert, denn der Leser beginnt mehr und mehr an den Schrecken, der Angst und der Melancholie der Protagonisten teilzuhaben. Die Mischung aus Verbrechen, Geheimnissen, Verfolgung und übersinnlichen Phänomenen schafft eine einzigartige Spannung, der man sich nicht entziehen kann.

Auch die Tatsache, daß Alfred seiner Schwester gewisse Dinge, die im Hintergrund stattfinden, verschweigt, ist ein genialer Kunstgriff, denn damit verbirgt der Autor über weite Strecken auch dem Leser, was tatsächlich vorgeht. Mathildens Augen und Ohren nehmen zunehmend die Erzählperspektive des Autors ein. Auch von den rätselhaften und geheimen Unterredungen zwischen dem Diener Leonard und Alfred berichtet uns der Autor stetig, doch wissen wir nur, daß diese Besprechungen außerordentlich aufwühlend zu sein scheinen. Nicht zu vergessen die romantische, melodramatische Ebene der Erzählung, denn Alfred und Mathilde sind beide unglücklich verliebt – Alfred ist in eine Engländerin verliebt, doch deren Vater hält Alfred für einen Spieler und will von verwandtschaftlichen Banden begreiflicherweise nichts wissen. Mathilde ist in Herrn Milverne verliebt, dem Retter von einst, doch auch dessen Vater hält nichts von einer Ehe mit Mathilde, da sie kein nennenswertes Vermögen besitzt. Am Ende des zweiten Teils beschließt Mathilde nach Frankreich zurückzukehren und in ein Kloster einzutreten, doch ihr Bruder Alfred ist außerordentlich optimistisch als er ihr entgegnet, sie solle noch kurze Zeit mit der Ausführung dieses Plans warten, denn schon bald erscheine eine Person, die diesen Entschluß hinfällig mache.

Im dritten und letzten Teil entwickelt der Autor eine Auflösung aller Geheimnisse und der unerträglichen, schwermütigen Atmosphäre des Romans, denn Herr Milverne, nunmehr Lord Milverne, erscheint und Mathilde ist überglücklich. Milverne erzählt nun seine Abenteuer. Erst einmal berichtet er, daß der Unhold Graf Ollifont doch überlebt habe, daß aber sein Stern im Sinken begriffen sei und seine mächtigen Freunde sich von ihm abwenden, denn er, Milverne, habe sich an die Behörden gewandt und den damaligen Vorfall aus seiner Perspektive zu Protokoll gegeben, so daß man nun allgemein der Auffassung ist, daß sich Graf Ollifont den Angriff auf sein Leben selbst zuzuschreiben habe. Doch der Haftbefehl gegen Alfred in Frankreich bestehe vorerst weiter. Darüberhinaus ist Milvernes Vater gestorben, so daß der nunmehrige Lord Milverne offenbar Mathilde zum Traualtar führen könnte.

Desweiteren erscheint, wie mit Mathilde verabredet, der Eremit, der einst ein Freund Graf Ollifonts war. Als der Eremit sich jedoch der Tugend zuwandte und das Laster mied, wurde Graf Ollifont der erbitterte Feind des Eremiten. Durch intrigante und verbrecherische Erpressungen wird der Eremit, einst ein vielversprechender und vermögender junger Baron, zu einem Dienst von Ollifont gezwungen, der darin bestand in der Abtei von Grasville das Gespenst zu spielen, damit Nachbarn und Fremde den Ort meiden. In der Abtei lagert nämlich ein kleiner Schatz, und um den zu sichern, sollte der Ort als verrufen gelten.

Während dieser Tätigkeit beobachtet der Eremit in der Umgebung der Abtei allerlei Vorgänge, die darauf hindeuten, daß Graf Ollifont identisch ist mit dem Anführer einer Räuberbande, die in der Umgebung ihrem Geschäft nachgeht. Auch wurde der Vater von Mathilde und Alfred in einem Grabgewölbe der Abtei gefangen gehalten, ehe Graf Ollifont ihn einige Tage später mit Hilfe eines Dieners ermordete. Nach diesen Berichten des Eremiten, sind alle Verbrechen von Graf Ollifont offenbar. Doch Beweise sind immer noch rar gesät.

Als ein hilfreicher Diener Ollifonts in der Nähe der Abtei von Grasville bei Verwandten im Sterben liegt, eilt der Eremit an dessen Sterbebett und erhält ein schriftliches Zeugnis über Ollifonts Verbrechen. Dieses Papier wird Mathilde und Alfred befreien, denn damit wird steckbrieflich nach Graf Ollifont gefahndet, der Haftbefehl gegen Alfred zunichte gemacht – und das Erbe der Maserinis ist juristisch nicht mehr anfechtbar. Auch wird damit bewiesen, daß Ollifont schon den Großvater der Maserinis mit Gift beseitigt hatte.

Nachdem nun alle Widerstände und alles Grauen, alle Rätsel und aller Schrecken gelöst sind, wird eifrig geheiratet. Graf Ollifont liegt in Paris in seinem Palast im Sterben und vererbt sein Vermögen den Maserinis – dabei wird er offenbar von seinem Gewissen gequält. Kinder der Maserini-Geschwister werden geboren und alles ist eitel Sonnenschein. Die trügerische Ordnung ist wieder hergestellt und eine nicht enden wollende Idylle tugendhaften und redlichen Daseins stellt sich ein.

Die Abtey von Grasville ist einer jener seltenen Prototypen des Kriminal- und Sensationsromans, dessen Konstruktionen noch bis in die 1870er Jahre gepflegt wurden und die gesamte Kolportageliteratur maßgeblich beeinflußt haben. Es ist erstaunlich, daß zu dieser Zeit schon derart »moderne« Romankonstruktionen entwickelt wurden, die ihrer Zeit weit voraus waren. George Moore soll noch mindestens einen weiteren derartigen Schauer-, Sensations- und Kriminalroman geschrieben haben, ob auch dieses zweite Buch übersetzt wurde, ist noch unklar. Grasville Abbey. A Romance, 1797, gilt als einer der ersten serialisierten Schauerromane der Literatur, der Text wurde in 47. Fortsetzungen in einer Damenzeitschrift namens Lady‘s Magazine von 1793–1797 publiziert, um dann 1797 im englischen Original als Buch zu erscheinen. Um das weibliche Publikum für diesen Roman zu gewinnen, war es notwendig ein Maximum an Spannung und ein Minimum brutaler Gewaltdarstellungen zu präsentieren – was dem Autor, neben seinem melodramatischen happy end, auch hervorragend gelungen ist.

Der Übersetzer und Verleger Polt läßt im kurzen Vorwort übrigens durchblicken, daß der Roman aus der Feder Ann Radcliffes stamme. Außerdem hat er den Titel mit dem Untertitel »Eine sehr interessante Geschichte« versehen, und ich vermute, daß er damit auf diese neue Gattung eines Sensationsromans anspielt, eine Gattung also, die damals noch keinen Namen hatte. Zumindest ahnte Polt, daß da etwas Neues im Schwange war, etwas zuvor kaum Dagewesenes. Ich glaube, daß es zu gleicher Zeit noch weitere wenige Vorläufer des Kriminal- und Sensationsromans gegeben hat, die allesamt im weitesten Sinne der Schauerliteratur zuzuordnen sind.