T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

George W. M. Reynolds: »Satan’s Schlingen«, 1862
von Mirko Schädel


George W. M. Reynolds: Satan’s Schlingen. Romantische Erzählung aus dem Mittelalter, Berlin: Martin Berendt 1862, 879 S.


George William MacArthur Reynolds, 1814–1879, war einer der drastischsten Schriftsteller von populärer Literatur in seiner Zeit. Er stammte aus einem soliden, begüterten Elternhaus, sein Vater schickte ihn mit 14 Jahren in eine Kadettenschule, der er sich aber nach dem Tode seiner Mutter mit seinem Erbe von 12.000 Pfund entzog. Mit 16 Jahren ging er nach Frankreich, wo er in Paris im zarten Alter von 20 Jahren eine englischsprachige Zeitschrift gründete. 

1836, mit 22 Jahren, war er bereits bankrott und kehrte nach England zurück, wo er sich, wie zuvor in Paris, journalistisch und schriftstellerisch betätigte. In Paris war Reynolds ein eifriger Leser der klassischen Feuilleton-Romane, vor allem von Eugene Sue. Auch später las er diese französischen Sensationsromane, deren Einfluß ihn zu einem der größten literarischen Erfolge seiner Zeit verhalf. 

Schon 1835, also noch in Paris, veröffentlichte er seinen Erstling The Youthful Impostor, einen sehr gelungenen Sensations- und Kriminalroman, in dem man schon das bewunderungswürdige Talent erkennen konnte. Dieser spektakuläre Roman erschien bereits 1838 in einer anonymen Übersetzung unter dem Titel Der Geheimnißvolle, oder Folgen des jugendlichen Leichtsinns in Ulm bei der Ebner’schen Buchhandlung in zwei Bänden. Es soll eine weitere Ausgabe des Buches mit dem Titel Der junge Betrüger gegeben haben, und ich vermute, daß das Buch Die Geheimnisse von London, oder Folgen des jugendlichen Leichtsinns, ebenfalls bei Ebner in Ulm 1852 erschienen, eine spätere Auflage von Der Geheimnißvolle, oder Folgen des jugendlichen Leichtsinns gewesen ist – denn auch hier handelt es sich um eine zweibändige Ausgabe. Darüber hinaus glaube ich, daß der Verlag der Ebner’schen Buchhandlung mit dieser Titeländerung versucht hat, auf die Modewelle der Geheimnisromane aufzuspringen. 

Tatsache ist, das Reynolds seinem Erstling bereits 1847 eine Überarbeitung angedeihen ließ, die dann unter dem neuen Titel The Parricide, or The Youth’s Career of Crime erschien. Diese Neufassung des Erstlings erschien wohl erstmals anonym in Wien unter dem Titel Die Glücksritter in London, 1855, bei Josef Stöckholzer von Hirschfeld in der Reihe Romantische Lesehalle. Gallerie der vorzüglichsten zeitgemäßen Romane des In- und Auslandes als Bände 410–414. Auch diese Übersetzung war anonym, der Autor wurde als Verfasser des Leichenräuber genannt. Die Romantische Lesehalle des Verlags Stöckholzer von Hirschfeld in Wien war der gescheiterte Versuch, dem übermächtigen Hartleben Verlag das Wasser abzugraben. Stöckholzer verstand sich als direkter Konkurrent zu Hartlebens Neuem belletristischem Lese-Cabinet, dabei ging es vorwiegend um die Akquirierung von Leihbüchereien als bedeutendstem Kundenstamm. Wie wir wissen, hatte der Verlag Hartleben einen ungemein längeren Atem, während Stöckholzer von Hirschfelds Unternehmen ziemlich bald in Vergessenheit geriet.

Reynolds schrieb in London für diverse Magazine und hatte bedeutende Einkünfte durch seine Romane, teils auch mit einem Plagiat eines Buches von Charles Dickens: Er verfasste eine eigene Variante der Pickwick Papers, jenes erfolgreichen humoristischen Werkes von Dickens. Reynolds’ Variante unter dem Titel Pickwick abroad, or, The Tour in France, 1839, dann 1841 in Braunschweig unter dem Titel Pickwick in der Fremde, oder: Die Reise in Frankreich erschienen, trug dem Autor erheblichen Gewinn ein. Außerdem bescheinigte die Kritik dem jungen Autor, daß er wohl das gelungenste Nachahmerwerk unter den zahlreichen schlechten Nachahmern von Charles Dickens geschrieben hat. Reynolds nahm sich später noch einmal Dickens für ein Plagiat von Master Humphreys Wanduhr vor. Dieser Ideenklau war neben anderen Gründen der Gegenstand einer berechtigten Verachtung von Charles Dickens für diesen George W. M. Reynolds.

Reynolds gründete im Laufe seiner Karriere die eine oder andere Zeitschrift und war als Redakteur für einige Magazine tätig, wo seine Romane in Fortsetzungen erschienen, bevor sie dann später als eigenständige Titel als Penny Bloods, billige Broschuren, veröffentlicht wurden. Dies waren die Vorläufer der klassischen Kolportageliteratur, billig und blutig. Es handelte sich dabei um außerordentlich minderwertig hergestellte Romane für die Massen, die häufig mit blutrünstigen Illustrationen versehen waren. Ein paar Verlage hatten sich auf diesen Markt konzentriert und konkurrierten eifrig miteinander. 

Um 1843 las Reynolds Eugene Sues Roman Die Geheimnisse von Paris, die ihn zu seinem Roman The Mysteries of London, 1845, inspirierten. Dieses Buch wurde Reynolds’ größter Erfolg, es erreichte nicht nur eine ungeheure Leserschaft, sondern machte auch dessen Verleger Vickers zu einem reichen Mann. Als Fortsetzung schrieb Reynolds noch The Mysteries of the Court of London, 1848, während er mit John Dicks einen neuen unabhängigen Verlag gründete, der eine Serie von Penny Bloods in wöchentlichem Turnus zu je acht Seiten bis ins Jahr 1856 herausgab. Tatsächlich waren diese achtseitigen Heftchen mit doppelspaltigem Satz und einer haarsträubenden Deckelillustration die Vorläufer der Heftromane und der Kolportageliteratur. Diese Hefte waren keine abgeschlossenen Erzählungen, sondern schier endlos scheinende Fortsetzungsromane.

Reynolds schuf daneben noch zahlreiche Sensationsromane ähnlicher Art, besonders hervorzuheben sei noch Wagner, the Wehr-Wolf, 1846–1847, der Titel verrät bereits, wessen Geistes Kind Reynolds war: ein Gothic Author. Allerdings habe ich bislang keine deutsche Übersetzung von Wagner, the Wehr-Wolf entdecken können. Hingegen fand ich Faust: A Romance of the Secret Tribunals, 1847, in der deutschen Übersetzung als Satan’s Schlingen. Dieser Faust-Roman gilt landläufig als Reynolds gelungenste Gothic Novel – und es handelt sich dabei um einen phantastischen Schauer- und Sensationsroman mit Anleihen an den frühen Kriminalroman vor 1850.


Der Roman beginnt 1493 mit einer Kerkerszene in Wittenberg, in dem der junge Student Faust vom Schließer erfährt, daß er bald das Zeitliche segnen wird, denn ihm droht die Todesstrafe, weil Faust in die junge Theresa von Rosenthal verliebt und dabei auf Gegenliebe gestoßen ist, doch Theresa ist seit Jugend an dem Erzherzog Leopold, dem Neffen des Kaisers Maximilian des Ersten, versprochen und mit diesem verlobt. Diese Liebe betrachtet Theresas Vater, der Baron von Rosenthal, als ein Verbrechen, und so hat dieser eine bösartige Intrige gesponnen um sich des jungen Studenten zu entledigen – inklusive fingierter Schwerverbrechen des jungen Faust.

Doch der Schließer des Gefängnisses berichtet Faust auch von der Legende eines früher in eben dieser Zelle eingesperrten Gefangenen, der vor rund 150 Jahren zum Tode durch das Rad verurteilt wurde – aber auf geheimnisvolle Weise entkommen konnte. Denn dieser verurteilte Schriftgelehrte und Kabbalist habe mit den Mächten der Finsternis in Verbindung gestanden und auch eine seiner Beschwörungsformeln sei in Faustens Zelle eingeritzt in das Mauerwerk erhalten geblieben.

Als Faust ein paar Stunden später vor Gericht gestellt werden soll, bittet er den Wärter noch um ein paar Minuten, denn er müsse sich vorerst noch sammeln. Tatsächlich entdeckt Faust die in den bloßen Stein eingeritzte Beschwörungsformel und kurz vor seiner Aburteilung nutzt er diese Formel, die ihm sofort einen mächtigen Dämon erscheinen läßt, der nach seinen Wünschen fragt. Faust geht in seiner Verzweiflung auf einen bösen Handel ein und verspricht seine Seele und sein ewiges Leben den Mächten der Finsternis. Im Gegenzug erhält er 24 Lebensjahre, dabei unbegrenzten Reichtum und ebenso unbegrenzte Macht. 

Nach dieser Einleitung zündet Reynolds ein Feuerwerk der Kolportage, jedoch in ungewohnt hoher Qualität. Satan’s Schlingen erschien im Original 1847 und beinhaltet bereits alle wesentlichen Ingredienzien eines äußerst spannenden Sensationsromans. Da in einer Klausel des Vertrags zwischen dem Teufel und Faust geregelt ist, daß letzterer niemals den geweihten Boden einer Kirche betreten darf, und Faust nunmehr durch seine überirdische Macht Theresa zur Frau nehmen kann – und auch kirchlich heiraten will, ist der Preis für diese Ausnahme von der Regel die Seele von Faustens Erstgeborenem. Doch vertauscht Faust seinen Säugling mit dem gleichzeitig geborenen Kind des Erzherzogs.

Überhaupt verwandelt sich Faust charakterlich langsam und stetig von einem zu Unrecht verfolgten Opfer zu einem gewissenlosen Täter. Er liebt seine Theresa immer noch, doch sucht er sich eine Geliebte, die er in seine Geheimnisse einweiht – und schwängert, seine Gattin weiß nichts von seinen Geheimnissen. Auch ein ganzer Roman, der auch eigenständig Bestand haben könnte, wird von Reynolds in sein Romankonstrukt gekonnt eingearbeitet, denn seiner Geliebten sucht Faust einen adäquaten Ehemann, den Baron von Czerny,  ein heruntergekommener, verschwenderischer Kerl mit immerwährenden Geldsorgen. Jedoch ist dieser Mann keineswegs das, was er vorgibt zu sein. Es handelt sich bei dem Baron lediglich um einen Doppelgänger, während der echte Baron seit vielen Jahren in einem Kloster unweit der italienischen Grenze gefangen gehalten wird – und dieses Kloster ist ein mit der heiligen Vehme verbundener Rückzugsort.

Den bösen Mächten gegenüber stellt Reynolds den jungen Maler Otto Pianella, ein ehemaliger Freund und Studiengenosse von Faust. Otto Pianellas Schwester Irene ist die gefallene Geliebte von Faust, und Otto weiß von den Verbrechen seiner Schwester, die von Ehrgeiz getrieben immer neue Ränke schmiedet. Doch Otto ist es auch, der zufällig bei einer Wanderung durch die Alpen auf einen gefangengehaltenen Baron stößt und sich über die frappierende Ähnlichkeit dieser Figur mit seinem Schwager wundert. Er sorgt dafür, daß der echte Baron auf spektakuläre Weise befreit wird und daß einige der Intriganten vor  das Gericht in Wien gestellt werden.

Doch Faust verliebt sich in eine weitere, geheimnisvolle Frau, die ihm zwar Hoffnungen macht, die jedoch von Faust verlangt, daß er die Befreiung der an der Entführung und Gefangenhaltung des Barons Beteiligten bewerkstellige. Tatsächlich sorgen Faust und sein Dämon für die Befreiung der Inhaftierten, auch weiß er bereits wer diese seltsame Schönheit ist, die auch seine ehemalige Geliebte Irene auf dem Gewissen hat: Lucretia Borgia, die uneheliche Tochter des Papstes und berühmte italienische Giftmischerin, die Faustens Geliebte Irene allerdings in Selbstverteidigung erstochen hat.

Desweiteren finden eine unüberschaubare Anzahl von Verbrechen statt, die meist von der Geheimverbindung der heiligen Vehme ausgehen. Auch Lucretia ist in die Machenschaften der Vehme und ihrer Freigrafen involviert, denn sie und ihr Bruder tun alles, um der eigenen Familie Vorteile und Macht zu verschaffen und schrecken vor keinem kriminellen Bündnis zurück.

Faust ist ein früher Superheld, der für 24 Jahre von seinem Dämon geschützt ist. Er ist unbesiegbar und in dieser Zeit auch unsterblich. Gelegentlich ruft er seinen dienstbaren Teufel, manchmal erscheint der Geist aber auch ungerufen. Einmal reisen Faust und sein Dämon sogar nach Neapel und steigen während eines Vulkanausbruchs auf den Gipfel des Vesuv. Der Dämon wollte damit Faust einen Vorgeschmack geben, was ihn nach diesen 24 Jahren erwartet, nämlich einen Freifahrtschein direkt in die Hölle. Faust und sein Dämon springen in den Krater hinein, doch erspart uns Reynolds eine genauere Beschreibung der Qualen, die Faust zukünftig und in alle Ewigkeit auszuhalten hat.

Faustens dienstbarer Geist ist auch durchaus kein devoter Diener, kein speichelleckender Untergebender, sondern ein spöttischer und ironischer Kommentator, der zwar alle Wünsche seines Opfers erfüllt, ja, erfüllen muß, sich aber nicht davon abhalten läßt kritische Bemerkungen zu machen. Faust hingegen ist zwar reich und mächtig, unbesiegbar und zunehmend intrigant, aber durchaus unglücklich. Zum einen übersättigt von allem – seinem fortwährenden Reichtum und seiner Macht, zum anderen aber gequält von dem, was seine Zukunft verheißt.

Faust ist kein bösartiger Charakter, auch wenn er die Zügel der Moral immer mehr schleifen läßt und nur noch seine eigenen kurzfristigen Interessen und Zerstreuungen verfolgt – Faust lebt bereits in der Hölle, denn sein Gewissen arbeitet noch. Dagegen sind die Intrigen und Machinationen der heiligen Vehme durchaus grausam und böse, die sich in Bezug auf die heutige Zeit nur mit der organisierten Kriminalität und also der Mafia vergleichen läßt.

Während der zweite Teil des Romans sich vermehrt mit Pater Anselm, einem Oberen und Freigrafen der Geheimgesellschaft der Vehme, beschäftigt – man könnte auch sagen dem Aufstieg und Fall dieses geistlichen Kriminellen und Heuchlers – und ebenso das Schicksal der liebenswürdigen Geschwister Cäsar und Lucretia Borgia beschreibt,  widmet sich der dritte Teil des Romans wieder vermehrt dem Seelenheil unseres Helden Faust – und zwar mit einem Zeitsprung von 15 Jahren, so daß Faust nur noch fünf Jahre bleiben, die er Herr seines Willens ist. Sein Kind und das des Erzherzogs, die ja vertauscht worden sind, sind nunmehr 18 Jahre alt und wünschen sich zu heiraten, doch während alle Familienmitglieder diesem Wunsch aufgeschlossen gegenüberstehen, bedeutet dies für Faust eine Höllenqual, denn er darf nicht die Schwelle einer Kirche betreten, es sei denn er leistet Verzicht auf die ihm restlich verbliebene Zeit, und er würde dann ad hoc der Hölle zuführt werden – der ewigen Verdammnis.

So nimmt Faust auch Kontakt auf zu Otto Pianella und verrät diesem Studienfreund, der die personifizierte Güte ist, einige wenige Details seines grausamen Schicksals, doch scheint Otto seinem ehemaligen Freund nicht wirklich helfen zu können und so sucht Faust eine andere Lösung seines Problems. Er ruft seinen Dämon herbei und erklärt diesem, daß er dafür sorgen müsse, daß die Wiener auf absehbare Zeit nicht ans Heiraten denken dürften, daß jeder Einwohner Wiens nun mit einem Ereignis zu tun haben müsse, das alle Gedanken freudiger Feste im Keim ersticken und ad absurdum führen solle. 

Der Dämon, der Faust noch einmal eindringlich vor den Konsequenzen warnt und ihn bittet darüber nachzudenken, wird von seinem Herrn zurechtgewiesen – und so läßt der Teufel eine Wolke von Osten nach Westen wandern, über die Stadt Wien hinweg. Auf Faustens Frage, was diese Wolke zu bedeuten habe, antwortet der Teufel, es sei die Pest, die aus den Weiten Asiens nun über Wien hinweggezogen sei und jetzt die Einwohner Wiens mit dieser tödlichen Plage belästige. Faust, der nur an sein eigenes Problem gedacht hatte, verflucht sich selbst dafür, daß er seinen entsetzlichen Wunsch nicht selbst umfassend durchdacht habe.

Auf die Bitte Faustens die Sache rückgängig zu machen, entgegnet der Teufel nur, daß das nicht möglich sei. Nun verhehrt die Beulenpest ganz Europa, und in Wien sterben die Menschen wie die Fliegen. Doch eine neue Seuche macht sich am Horizont breit, die Seuche des Aberglaubens, der Geißler und Frömmler, die in Massen durch die Straßen ziehen, sich selbst geißelnd und peitschend. Einer ihrer Führer behauptet in seinem Wahn sogar von Jesus Christus einen Brief erhalten zu haben. Und siehe da, nach einiger Zeit behaupten die keiner Vernunft mehr zugänglichen Fanatiker, die Juden hätten dieses Unglück zu verantworten. Es kommt zu Gemetzeln, jüdische Mitbürger werden in Häuser gepfercht und diese dann angezündet. Viele Juden flüchten in den Selbstmord um der Verfolgung und Ermordung zuvorzukommen. Reynolds entwirft ein apokalyptisches Szenario, das traurigerweise außerordentlich realistische Züge aufweist.

Faust hingegen flüchtet sich zu Otto Pianella und erzählt diesem nun seine Verbrechen und Geheimnisse in aller Ausführlichkeit. Otto hat Mitleid mit diesem Ausgestoßenen und Verzweifelten, und die beiden ehemaligen Freunde beraten, wie Faust und seiner Familie geholfen werden kann. Man ist sich einig, Faust selbst zu helfen wird nicht möglich sein, doch die dem Teufel versprochene Seele des Erstgeborenen kann gerettet werden, wenn Otto Pianella sich nach Armenien aufmacht zu dem heiligen Berg Ararat, wo immer noch und unangetastet die Arche Noah liegt. Die Planken des alten Schiffs sind heilig, und wenn es Otto gelingt, ein Stück des Holzes der Arche Noah zu bergen und Faustens Sohn als Talisman zu bringen, dann wird seine Seele von den bösen Mächten unerreichbar sein.

Otto macht sich mit seiner Familie auf nach Armenien, er will die Familie seines Freundes retten. Seine eigene Familie läßt er in der Nähe rasten, während er sich mit einem türkischen Führer zum Ararat begibt, wo letzterer ihm vom Aufstieg des Berges vehement abrät, denn niemand habe es je geschafft den Gipfel und also die Arche Noah zu erreichen. Doch Otto bricht allein mit etwas Proviant am Morgen auf und der Leser wird Zeuge eines eindrucksvollen Aufstiegs, der nur von einem Gebet Ottos unterbrochen ihn zielstrebig und ungeachtet aller Gefahren zum Ziel führt. Selbst der Teufel, der währenddessen auf dem Gipfel des Berges steht und alle Naturelemente auffordert gegen Otto tätig zu werden, zieht sich wütend zurück, denn die Elemente und Kräfte der Natur entsagen ihm den Dienst.

Otto findet unter Eis und Schnee das hölzerne Konstrukt der Arche Noah und entfernt einen Splitter, den er als Taiisman nach Wien bringen will. Der Rückweg geht derart schnell und ungefährdet vonstatten, daß er schon am frühen Abend wieder das Tal erreicht. Otto und seine Familie begeben sich zum nächsten Hafen, wo sie ein Schiff in die Heimat nehmen. Einige Zeit später jedoch scheint das Schiff in Seenot geraten zu sein, auf dem Otto Pianella samt Familie auf der Heimreise ist. Vor dem Fürstentum Ferrara, wo auch unsere schon fast vergessene Prinzessin des Bösen, nämlich Lucretia Borgia, eingeheiratet hat, ist das Schiff auf Grund gelaufen.

Durch einen Zufall hört Lucretia von Pianellas Mißgeschick und erinnert sich, wie der stolze Mann vor Jahren ihr erotisches Angebot ausgeschlagen hatte. Sie ist immer noch eine große Intrigantin und Verbrecherin mit einem Engelsgesicht und setzt sofort einen grausamen Plan in Szene. Sie läßt Pianella, der am Ufer des Meeres Luft schöpfend spazieren geht, entführen und in eine stählerne Zelle werfen. Jeden Morgen um eine bestimmte Uhrzeit hört er ein Glockengeläut und sehr bald wird ihm klar, daß sich die Zelle jeden Tag erheblich verkleinert. Die Decke senkt sich, die Wände rücken näher. Vier Tage  geht das so, doch dann meldet sich Lucretia und fordert ihn auf sich ihr als williges Lustobjekt zur Verfügung zu stellen. Doch Otto gibt nicht nach und ist bereit in diesem stählernen Sarg grausam zu Tode zu kommen. Glücklicherweise wird Lucretias Plan von ihrem Gatten, dem Fürsten von Ferrara, vereitelt, statt Pianella wird nun Lucretia Borgia diesen teuflichen Tod selbst sterben.

Als Otto endlich Wien erreicht, erfährt er, daß Faustens Gattin, Theresa, an der Pest gestorben sei und Faust ist beinah dem Wahnsinn nahe. Doch ist Faustens Sohn dank dem Talisman vor dem Satan geschützt, und Faust sieht seinen letzten Tagen entgegen. Pianella bemüht sich noch darum Faust zu überzeugen, daß dieser Zuflucht zu einem Kloster oder einer Kirche nehmen solle, doch Faust ist der Ansicht, daß seine Verbrechen vor Gott keine Gnade finden können. So zieht sich Faust zurück in die Einsamkeit und harrt der Dinge, die da kommen mögen.

Am Tage der Überschreibung von Faustens Seele treffen sich letzterer und sein Dämon auf dem Vesuv, wo der Teufel Faust erklärt, daß ihm durchaus Gnade zuteil geworden wäre, wenn er sich mutig in die Hände der Geistlichkeit begeben hätte – und da Otto Pianella recht hatte. Doch nun sei der Zeitpunkt gekommen, und das Flehen von Faust um Gnade verhallt, denn der Satan packt ihn und sie fallen in die Tiefe des vulkanischen Kraters – einem der Eingänge der Hölle auf Erden. Der Roman endet am 31. Juli 1517, nach der 24jährigen Knechtschaft des Dämons – und der Höllenfahrt des Faust, Graf von Aureana.

Somit endet dieser großartige, spannende und überaus gekonnte Roman, der von Anfang bis Ende auf einer geradezu perfekten Romankonstruktion fußt, die von einer Anzahl atmender Figuren bevölkert wird, die leicht auseinanderzuhalten sind. Die Bilder, die der Autor im Kopf seiner Leser erzeugt, sind grandios, phantastisch und klug, sie haben eine archaische Anmutung. Die wirren Sektierer, heute würde man sagen: Verschwörungstheoretiker, die geißelnd, von heuchlerischer Frömmigkeit getrieben, später brandschatzend und mordend durch die Straßen Wiens ziehen, erinnern an Roy Anderssons Film-Meisterwerk »Songs from the Second Floor«, Bilder die man nie wieder vergißt in ihrer Erhabenheit und ihrer absurden Komik.

Faust ist ein Irrender und Suchender, der aus Verzweiflung und als Opfer angesichts des Todes auf die Bahn des Verbrechens und der Finsternis geraten ist. Doch seine Macht und sein Reichtum können ihn nicht über seine Verworfenheit und seine Kreatürlichkeit täuschen – somit wird die Figur zu einem ambivalenten Helden. Faust ist nicht böse oder gut, er folgt seinen lächerlichen Instinkten und Affekten wie jeder andere Mensch.

Selbst Lucretia Borgia und ihr Bruder Cäsar sind zwar fleischgewordene Bösewichter, doch auch in ihnen schlummert noch ein Rest von Menschlichkeit, auch wenn diese regelmäßig überwunden wird. Pater Anselm, der ehemals Gehenkte, der seine eigene Hinrichtung überlebt hatte und im Seziersaal wieder sein Bewußtsein erlangte um dann die Flucht zu ergreifen und sich der heiligen Vehme anzuschließen, ist ein Bösewicht reinsten Wassers, er suizidiert sich im Gefängnis in Wien nachdem er seine Kumpane der Justiz verraten hat.

Otto Pianella ist der Widerpart zu allen Bösewichtern, der ebenso erfolgreich in seinen Aktivitäten ist wie Faust, doch die Macht, die ihn schützt ist eine göttliche, gegen die selbst der Satan persönlich keine Handhabe hat. Pianella ist der empathische, aufrichtige, selbstbewußte, mutige, doch immer zurückhaltende und besonnene Mann, ein Ritter, der nicht frömmelnd, sondern gottgefällig ist. Seine Macht ist ebenso groß wie die seines alten Freundes Faust, wenn nicht größer, dabei verzichtet er auf jeglichen materiellen Lohn oder Adelstitel, denn seine Hände Arbeit als Maler geben ihm ein gutes Auskommen.

Die Mittel derer sich Reynolds bedient entstammen der Farbpalette der Kolportage, seine Figuren werden getrieben von den Ereignissen, Säuglinge werden kurz nach der Geburt ausgetauscht, Edelleute entführt und gefangengehalten, einige Szenen in Höhlen oder im Gebirge, geheime Gänge, Folterinstrumente, Giftmischer und Intrigen aller Art, Morde und Verbrechen, Verfolgungsjagden etc. Doch Reynolds ist ein meisterhafter Erzähler, seine Versatzstücke der Kolportage und des Sensationsromans sind atemberaubend lustvoll erzählte Passagen von höchster Qualität.

Reynolds verliert nie den Überblick über seine Figuren oder die verschiedenen Handlungsstränge, alles folgt seiner inneren Logik und der einzigartigen Spannung, die er schafft um den Leser zu unterhalten. Verziehen seien ihm die 100 Seiten von Ausschweifungen in dem Bereich der Märchenerzählung, die der Autor zum Ende des Romans einfügt, als er seine Beschreibung der von der Beulenpest heimgesuchten Stadt Wien beendet hat und von einem Schloß unweit Wiens berichtet, wo die Leute sich derart von dem Schrecken abzulenken suchen, daß sie sich einander Geschichten erzählen, die teilweise an die Erzählungen von 1001er Nacht angelehnt sind.

Satan’s Schlingen ist in seiner Art ein Meisterwerk, es ist kein Wunder, daß die Erfolge Reynolds sich zeitweise mit denen seines großen Konkurrenten Charles Dickens messen lassen konnten. Niemand konnte Dickens in der Figurenzeichnung das Wasser reichen, und seine Kunst gehört damals wie heute zu der bedeutendsten Romankunst der Neuzeit, doch Reynolds Meisterschaft ist auch nicht zu verachten, auch wenn sie nicht ganz an Charles Dickens Kunst heranreicht, ist sie dennoch eine Klasse für sich. Schon vor Reynolds haben sich in dem Genre Autoren wie Thomas Gaspey oder Bulwer-Lytton getummelt, zeitgleich mit Reynolds waren auf dem Gebiet J. F. Smith, Mrs. Crowe, Charles Dickens und William Harrison Ainsworth unterwegs. Sie alle können zu den Vorläufern und Wegbereitern des Kriminalromans gerechnet werden.


Auswahlbibliographie

Anonym [d. i. George W. M. Reynolds]: Der Leichenräuber. Neue Geheimnisse von London, anonyme Übersetzung, Wien und Leipzig: Joseph Stöckholzer von Hirschfeld 1852, Romantische Lesehalle. Gallerie der vorzüglichsten zeitgemäßen Romane des In- und Auslandes 194–217, 6 Bde., 252, 288, 288, 336, 296, 285 Seiten, [The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Die Geheimnisse von London, übersetzt von J. Morris. Hrsg. von Fred Demcker, Magdeburg: Ebers 1856/1857, [vermutlich: The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Dunkle Wege oder Neueste Geheimnisse von London. Romantische Erzählung, anonyme Übersetzung, Berlin: A. E. Papstlebe um 1860, 2 Bde., 847 Seiten, [The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Dunkle Wege oder die Carriere des Lasters. Ein Sittenroman aus Londons Leben, anonyme Übersetzung, Berlin: Reichardt & Co. 1863–65, 4 Bde., 936, 256 Seiten, [The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Geheimnisse des Londoner Hofes, Berlin: Sacco 1867, 5 Bde., 1586 Seiten, [The Mysteries of the Court of London, 1848]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Die indische Fürstin oder geheimnißvolle Verbrechen, anonyme Übersetzung, Berlin: Sacco 1869, 4 Bde., 382, 298, 315, 466 Seiten, [The Mysteries of the Court of London, 1848]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Der Geheimnißvolle, oder Folgen des jugendlichen Leichtsinns, anonyme Übersetzung [vermutlich von Juliane Sibylle von Seutter], Ulm: Ebner’schen Buchhandlung 1838, 2 Bde., 302, 344 Seiten, [The Youthful Impostor, 1835]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Die Geheimnisse von London, oder Folgen des jugendlichen Leichtsinns, Ulm: Ebner 1854, 2 Bde., [The Youthful Impostor, 1835]

Anonym [d. i.: George W. M. Reynolds]: Die Glücksritter in London, anonyme Übersetzung, Wien und Leipzig: Joseph Stöckholzer von Hirschfeld 1855, Romantische Lesehalle. Gallerie der vorzüglich­sten zeitgemäßen Romane des In- und Auslandes 410–414, 4 Bde., 288, 280, 302, 288 Seiten, [The Parricide; Or, The Youth’s Career of Crime, 1847 – überarbeitete Fassung von The Youthful Impostor, 1835]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Satan’s Schlingen. Romantische Erzählung aus dem Mittelalter, anonyme Übersetzung, Berlin: Behrend 1862, 879 Seiten, [Faust: A Romance of the Secret Tribunals, 1847]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Satan’s Schlingen. Romantische Erzählung aus dem Mittelalter, anonyme Übersetzung, Berlin: Sacco 1864, 3 Bde., [Faust: A Romance of the Secret Tribunals, 1847]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Zwölf Jahre; Nachtbilder aus Londons Leben, anonyme Übersetzung, Berlin: Sacco 1862, 2 Bde, [The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Zwölf Jahre. Nachtbilder aus Londons Leben. Ein Sittenroman, auch eine anonyme Übersetzung, Berlin: Ferdinand Reichardt & Co. um 1862, 2 Bde., 480, 624 Seiten, [The Mysteries of London, 1845]

Reynolds, G[eorge] W. M.: Der Straßenräuber oder Schuld und Sühne. Romantische Erzählung, anonyme Übersetzung, Berlin: Burmester & Stempell um 1875, 824 Seiten

Reynolds, G[eorge] W. M.: Wollust und Verbrechen auf dem Throne, oder: Die Rache des Schicksals. Historischer Roman aus den Zeiten des Prinzen von Wales, späteren König Georg IV., anonyme Übersetzung, Berlin: Otto Humburg 1866, 1102 Seiten

Reynolds, G[eorge] W. M.: Gekrönte Häupter oder verhängnisvolle Schicksalswege, aus dem Englischen übersetzt von J. Morris, Berlin: o. A. o. J., [The Mysteries of the Court of London, 1848 –nur die 4. Abteilung]

Anmerkung: Die Romane von Reynolds sind allesamt große Raritäten, deshalb ist es ausgesprochen schwierig die bibliographische Vollständigkeit zu gewährleisten. Man kann jedoch getrost davon ausgehen, daß es noch weitere Werke von Reynolds in deutscher Übersetzung gegeben hat und daß alle diese Romane auch dem Sensations- und Kriminalroman zuzurechnen sind.