T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Mrs. Crowe: »Lilly Dawson oder Das Gasthaus zum Schwarzen Jäger«, 1854

von Mirko Schädel


Mrs. [Catherine] Crowe: Lilly Dawson oder Das Gasthaus zum Schwarzen Jäger, Wurzen: Verlags-Comptoir 1854, 4 Bände


Ich las mit großer Begeisterung vor einigen Jahren den anonym erschienenen Roman Der Mordverdacht in der Lindau’schen Übersetzung von Catherine Crowe. Kurz vor dem Erwerb des Buches betrat ich in Wien ein Antiquariat und fragte nach alten Kriminalromanen. Der Antiquar hatte einen überdimensionierten Tisch im Mittelpunkt seines Geschäftes stehen, ganz so wie noch heute, und auf diesem Tisch lagen einige Stapel Bücher. Er zog aus einem der Stapel ein Buch aus der Tentscherschen Schloßbibliothek und reichte es mir. Ich fragte nach dem Preis und zahlte. Ich kannte diesen Titel nicht, ich wußte nur, daß es sich um eine große Rarität handeln müsse. Auf dem Weg zum Hotel las ich das Vorwort von Lindau, der über die Autorenschaft offenbar auch im Unklaren war, doch nannte er dort einen weiteren Titel des anonymen Urhebers, der mir jedoch bekannt war und den ich sofort als einen Roman von Mrs. Crowe identifizieren konnte. Einige Jahre zuvor fand ich in der Bibliothek eines Wiener Sammlers die Ausgabe Licht und Schatten von Mrs. Crowe, in der die Autorin eine Sammlung von glänzenden Kriminalgeschichten präsentierte – eine dieser Kriminalgeschichten drehte sich sogar um die berühmte Giftmörderin Geesche Gottfried aus Bremen. Meine Begeisterung für diese Autorin war und ist ungebrochen.

Wir wissen, daß Catherine Crowe, 1803–1876, mit zunehmendem Alter zu einer Geistergläubigen wurde. Sie verfaßte also nicht nur mehr oder minder bekannte Gespenstergeschichten, sondern glaubte inbrünstig an deren Existenz und schrieb darüber auch Bücher. Dieser Glaube gipfelte damals in dem Umstand, daß Mrs. Catherine Crowe im Alter von 51 Jahren nackt in Edinburgh aufgegriffen wurde, weil sie der Ansicht war, ein Geist habe sie unsichtbar gemacht. Die beiden Freunde Wilkie Collins und Charles Dickens sollen sich über diesen Vorfall unterhalten und amüsiert haben und besonders Dickens machte wohl allerorten Witze und spitze Bemerkungen über seine Kollegin. Dickens schrieb in einem Brief: »Mrs. Crowe ist völlig verrückt geworden – und völlig nackt, […] Sie wurde neulich auf der Straße aufgegriffen, in der Kleidung ihrer Keuschheit und nur mit einem Taschentuch und einer Visitenkarte [in den Händen]. Sie war von den Geistern informiert worden, daß, wenn sie in dieser Art ausgehen würde, sie unsichtbar sein würde. Sie ist nun im Irrenhaus, und, ich befürchte, hoffnungslos verrückt. Eine der merkwürdigen Manifestationen ihrer Störung besteht darin, daß sie nichts Schwarzes tragen kann […].«

Ich mache keine Witze über Mrs. Crowe, und ich halte die Schriftstellerin für äußerst sensitiv und empathisch, was wohl auch die Ursache für die überzeugende Darstellung der Atmosphäre ihrer Romane ist. Crowe ist eine Mittlerin zwischen den Newgate-Romanen der 1820er–1840er Jahre mit ihren verschwurbelten Anklängen an den Schauerroman und den Sensations- und Kriminalromanen der 1860–1870er Jahre.

Natürlich bedienen sich diese beiden Genres allesamt der Mittel der Kolportage, doch Crowe weist darüber hinaus – schon allein der Umstand, daß sie sich mit Vorliebe weiblicher Heldinnen bedient, verläuft konträr zu den damaligen Regeln der Newgate-Romane und eröffnet eine neue, weibliche Erzählperspektive, die erst in den 1860er und 1870er Jahre populär wurde. Damit ist Crowe ihrer Zeit um einiges voraus.

Lilly Dawson oder Das Gasthaus zum Schwarzen Jäger, 1854, erschien im Original 1850 und Crowe bezieht sich in der Erzählung auf das 9jährige Mädchen Lilly – explizit auch als Cinderella oder Aschenputtel bezeichnet. Denn nichts anderes scheint Lilly Dawson zu sein. Lillys Vergangenheit ist ein Geheimnis, sie scheint eine Waise zu sein und lebt in einer tierhaften, schicksalsergebenen Apathie. Lilly lebt als eine Leibeigene auf Lebenszeit, die schlecht behandelt und nicht beachtet wird. Die Familie, bei der Lilly untergekommen ist, heißt Littenhaus. Einer der wenigen Menschen, die Lilly mit Respekt begegnen, ist Jacob Littenhaus, das Familienoberhaupt, doch der vorzeitig gealterte Mann hat kaum Einfluß auf seinen Hausstand und seine Familie, die aus zwei Söhnen und zwei Töchtern besteht. Nach und nach kristallisiert sich heraus, daß die Familie von Schmuggelei und Piraterie lebt und das Gasthaus nur als Scheingewerbe zur Geldwäsche betreibt. Als die kriminellen Pläne der beiden Brüder auf Expansion abzielen, lassen sie es sich nicht nehmen zwei Menschen aus dem Weg zu räumen, die ihren Absichten zuwiderlaufen.

Lilly Dawson ist verwirrt, denn ihr einziger Freund Jacob Littenhaus stirbt, und sie nimmt erstmals Fühlung mit diesem abstrakten Zustand. Kurz darauf erkrankt sie an Masern, und als sie in der Nacht beabsichtigt, da sie äußerst durstig ist, ins Erdgeschoss zu gehen  um Wasser  zu trinken, erinnert sie sich, daß in dem Zimmer des Toten noch ein Krug Wasser stehen müßte. Der Tote ist bereits eingesargt, der Deckel zugeschraubt und die Bestattung soll am folgenden Tag stattfinden. Lilly betritt das Zimmer und schaut sich nach dem Krug um, da hört sie Schritte die Treppe hinaufsteigen. Sie versteckt sich hinter einem Vorhang und wird Augenzeugin seltsamen Tuns. Die Brüder Littenhaus tragen einen Leichnam in das Zimmer, schrauben den Deckel vom Sarg und heben ihren toten Vater auf den Fußboden, wo sie dessen Leiche in einen Teppich einwickeln. Die mitgebrachte und von Lilly unerkannte Leiche wird stattdessen in den Sarg gelegt und der Deckel zugeschraubt. Anschließend bringt man den in den Teppich gewickelten Leichnam Jacob Littenhaus’ hinaus und die Treppe hinunter.

Lilly, die keinerlei Argwohn kennt und auch sonst in ihrer tierhaften Apathie kaum Notiz von diesen Vorgängen nimmt, kehrt in ihr Zimmer zurück. Ihre Phantasie beginnt sich erst viel, viel später zu regen, doch hat sie niemandem, dem sie von ihrer Beobachtung erzählen kann – und noch weniger hat sie einen Grund die Beobachtungen jemanden mitzuteilen, da ihr gar nicht klar ist, was dies alles zu bedeuten hat. Der Kutscher des Hauses, der noch lange nach dem unerwartet und spurlos verschwundenen Müller des Ortes gesucht hatte, verschwindet ebenso spurlos, nur sein Geist scheint sich noch einmal seiner Geliebten und deren Mutter gezeigt zu haben. Lilly befreundet sich mit der Witwe des Müllers und deren Sohn Philipp, der später als Lehrling in der neueingerichteten, da vorher abgebrannten Mühle arbeiten wird. Lucas Littenhaus übernimmt die Mühle und wird Philipps Lehrherr, doch behandelt er seinen Lehrling ähnlich schlecht wie seine angebliche Cousine Lilly. Philipp soll mit seiner Volljährigkeit die Mühle übernehmen, doch Lucas Littenhaus möchte die Mühle aus strategischen Gründen für seine kriminellen Aktivitäten behalten.

Lilly, die immer noch wie eine Leibeigene behandelt wird und allerlei Drangsalierungen ausgesetzt ist, ist fünfzehn Jahre alt als Lucas Littenhaus beschließt das arglose Mädchen zum Traualtar zu führen. Lucas möchte Lilly auch zukünftig kontrollieren und fürchtet sich vor ihrer Zeugenschaft und ihrem gefährlichen Mitwissen, außerdem stammt das Mädchen ursprünglich aus sehr vermögendem Hause, so daß Lucas hofft sich in naher Zukunft in den Besitz von Lillys Erbe zu setzen. Allerdings bleibt laut Mrs. Crowes Darstellungen die genaue Herkunft Lillys noch etwas nebulös.

Um die Hochzeitsfeierlichkeiten durchzuführen und das Gerede der Nachbarschaft zu unterdrücken, beschließt Lucas seine Braut Lilly in die nächste Kreisstadt zu schaffen und dort das Aufgebot zu bestellen. Doch als man Lilly ein paar Tage allein läßt unter der Aufsicht ihrer Hauswirtin, verläuft sie sich bei einem Spaziergang in der Kleinstadt. Sie schließt sich einem blinden Bettler namens Abel an, dem sie wie ein geschlagener Hund hinterherläuft. Ihre Absicht war niemals eine Heirat mit Lucas, vor dessen Gewalt und Brutalität sie sich fürchtet. Der blinde Bettler Abel ist das Gegenteil von Lucas Littenhaus, er ist ein gütiger und würdevoller Charakter dessen Enkelin vor kurzem am Scharlach gestorben ist, seine Verzweiflung ist groß, denn er hing sehr an diesem Mädchen, das ihn, den Blinden, mit seinem Hausiererköffchen zu den Kunden führte. Lillys Erscheinen hält er für eine Gottesgnade, denn Lilly kümmert sich um den hilflosen Mann und führt ihn zu seiner Tochter in einer weit entfernten Stadt.

Es gelingt Lilly nicht nur ihren Bräutigam Lucas zu entschlüpfen, sondern sie emanzipiert sich zunehmend und macht eine langsame, aber stetige geistige Entwicklung durch. Dabei erlebt sie allerlei Abenteuer, doch Lucas bleibt ihr auf der Spur, sein Rachebedürfnis ist erwacht, und er würde sie töten um ihr den Mund zu schließen, wenn er ihrer habhaft werden würde. Einmal kommt Lucas ihr gefährlich nahe, doch gelingt Lilly eine neuerliche Flucht, die sie nach London führt, wo sie ein Auskommen als Näherin findet. In London erlebt unsere stille, schüchterne Heldin weitere Abenteuer verschiedener Art, sie trifft auch auf Philipp, den Sohn des ermordeten Müllers, doch hat sie die Geschichte um den vertauschten Leichnam, vermutlich Philipps Vater, beinah vergessen – und kann sich die Zusammenhänge immer noch nicht erklären. Sie verliebt sich in Philipp und lebt bei einem hübschen Modepüppchen zur Untermiete, bis letztere Lillys Geliebten die Augen verdreht. Anschließend wird Lilly von jener »Freundin« beiseite geschafft und an einen Handlanger von Lucas Littenhaus verraten.

Weitere Abenteuer begegnen Lilly, und wieder gelingt es Lucas beinahe Lilly zu ermorden, doch in der Dunkelheit jenes Raumes und den chaotischen Verhältnissen dort, tötet Lucas versehentlich seine eigene Schwester, ohne seinen Irrtum zu bemerken. Wieder gelingt Lilly die Flucht und die Aufnahme in einem Haushalt in London, wo sie als Dienstmädchen ihre tägliches Brot verdient. Oberst Adams nennt sich das Familienoberhaupt des bescheidenen Hausstandes, und vorerst ahnt niemand außer dem Leser, daß Lilly im Haus ihres leiblichen Vaters und ihres Bruders lebt – in relativer Armut, denn ein ränkesüchtiger Verwandter von Oberst Adams sorgt juristisch dafür, daß die Familie das bedeutende Erbe Lilly Dawsons alias Isabelle Adams nicht genießen kann, die nämlich für tot gehalten wird – was vor Gericht jedoch nicht zu beweisen ist.

Im Verlauf der Geschichte wird irgendwann Lucas Littenhaus wegen des Mordes an seiner Schwester zur Rechenschaft gezogen, der aufgrund seines mörderischen Irrtums in Wahnsinn verfällt. Währenddessen wird die wahre Identität Lillys geklärt und das große Erbe wird ihr zu Füßen gelegt. Zwei Jahre müht sich Lilly nun ab um aus sich eine Dame der Gesellschaft zu machen, dann gibt sie den Vorsatz auf und überschreibt ihr Vermögen Oberst Adams, ihrem Vater. Sie heiratet Philipp und führt ein bescheidenes, bürgerliches Leben.

Das Ende des Romans ist außerordentlich rührend, fast rührselig, und Crowe arbeitet mit allen Versatzstücken der Kolportage. Dieser Entwicklungsroman ist gekonnt in einem Konstrukt des Sensations- und Kriminalromans hineingegossen worden um mühelos die größtmögliche Spannung beim Leser hervorzurufen. Die Atmosphäre des Romans hat gelegentlich etwas märchenhaftes, und vermutlich ist es das Märchen von Aschenputtel, das Crowe zu diesem Roman animiert hat. Dabei weiß Crowe ganz genau in welcher Weise die Dosierung ihrer Krimi- und Kolportageelemente mit den Elementen des Entwicklungsroman verflochten werden müssen, um den Leser am Text kleben zu lassen. Und natürlich ist Lilly Dawson auch eine Variation zu ihrem bekannten und sehr erfolgreichen Roman Susanne Hopley, oder Abenteuer eines Dienstmädchens, 1853.

Darüberhinaus wartet die Autorin mit überaus interessanten Passagen auf. Ein Kapitel zum Beispiel ist ganz dem Thema der Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau gewidmet. Die Vorstellungen der Crowe sind ambivalent, zum einen formuliert sie durchaus moderne Ansichten, zum anderen ist sie zu sehr ein Kind ihrer Zeit und behauptet allen Ernstes, daß der Intellekt der Frau naturgemäß nicht so scharf entwickelt sein kann wie der des Mannes.

Das Milieu dieses Romans besteht vor allem in kleinbürgerlichen und bitterarmen Schichten des Proletariats, Menschen also, die vorwiegend von der Hand in den Mund leben. Diese Menschen haben zwar kein Geld, aber dafür Empathie, Herz und Verstand. Lilly ist ein Teil dieses Mileus und ist für jede kleinste Andeutung von Güte dankbar. Sie verschreibt sich völlig ihren Instinkten und findet überall Freunde, die sich ihrer annehmen und zu schützen suchen. Insofern beschreibt Crowe natürlich eine Idealwelt, die es so nicht gegeben hat und nicht geben wird. Auch Crowes Interesse für Spiritismus und Geistererscheinungen findet in dem Roman seinen Niederschlag. Sie läßt nicht nur einen Ermordeten als Gespenst erscheinen und erwähnt diesen Vorgang an anderer Stelle noch einmal, sondern sie kommentiert diese Passage auch in essayistischer Weise und glaubt, daß in nicht allzu ferner Zukunft das Übersinnliche erfolgreich erforscht werden wird.

Lilly, die im Gasthaus zum Schwarzen Jäger in stoischer Apathie ein nahezu tierhaftes Dasein geführt hat, die geschunden, ausgebeutet und vernachlässigt wurde – entwickelt sich langsam und stetig zu einer integren, reifen Erwachsenen, die von Wahrheit und Liebe geleitet wird und die auf ihr großes Vermögen verzichtet – und ebenso auf den entsprechenden Bildungsgrad samt der obligaten Manieren der herrschenden Elite, da sie sich in den vornehmen Kreisen unwohl fühlt – und, wie ich vermute, sich nur ungern verstellt.