T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Hugh Conway, das ist Frederick John Fargus: »Erinnern«, 1894

von Mirko Schädel


Hugh Conway, das ist Frederick John Fargus: Erinnern, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1894, Reclams Universal-Bibliothek Band 3236–3237, 196 Seiten


Hugh Conway, das ist Frederick John Fargus, 1847–1885, war ein britischer Schriftsteller, der in Monte Carlo an Tuberkulose starb. Verfasser sogenannter »Shilling Shockers«, ein Millionen-Bestseller wurde Called Back, 1883, der auch als Theaterstück sehr erfolgreich war. Der Roman erschien in Deutschland 1884 erstmals im Stuttgarter Engelhorn-Verlag unter dem Titel Durch Nacht zum Licht, dann 1894 in neuer Übersetzung bei Reclam in der Universal-Bibliothek Band 3236/3237.

Erinnern, 1894, ist ein viktorianischer Reißer, ein romantischer mystery, der äußerst spannend und unterhaltsam ist. Die völlig unglaubwürdige Geschichte wird in eine glaubhafte Fasson gebracht, nicht zuletzt durch die Beteuerungen des Ich-Erzählers und Helden dieses Romans, der immer wieder darauf verweist, daß niemand ihm dies glauben könne, es sich dennoch alles so zugetragen habe, wie er es hier dem Leser wahrheitsgemäß berichtet.

Vaugham, ein junger und wohlsituierter Engländer, erkrankt am Grauen Star, es droht die Erblindung, die auch tatsächlich über den jungen Helden mit allen Konsequenzen hereinbricht. Der blinde Vaugham suhlt sich nun in seinem Elend und seinem Selbstmitleid und befindet sich in einer Art Depression, dabei muß er sich bis zur Rückkunft seines Augenarztes gedulden, der eine längere Auslandsreise angetreten hatte. Vaugham will niemand anderen mit der Operation betrauen, da er weiß, daß sein Augenarzt eine Kapazität auf diesem Gebiet ist. Vaugham sitzt also in seiner Wohnung in London und ist verzweifelt, doch eines Nachts treibt es ihn nach draußen. Er will sich etwas Bewegung verschaffen und einen kleinen Spaziergang machen, wobei er seine Schritte zählt um allein wieder in seine Wohnung zu finden. Irgendwann jedoch vergißt er das Zählen seiner Schritte, seine Gedanken treiben ihn fort, und so gerät er an einen unbekannten Ort und weiß nicht, wie er wieder sein Heim finden kann. Ein Betrunkener stolpert vorbei, dieser nimmt ihn am Arm und erklärt Vaugham, daß er ihn nach Hause bringen werde. Als der Betrunkene ihn vor einem Haus allein läßt, steigt Vaugham die Stufen des Hauseingangs hinauf und steckt seinen Hausschlüssel ins Schloß. Er öffnet die Tür, schleicht tastend das Treppenhaus hinauf und entdeckt, daß er in einem fremden Haus sein muß.

Im Obergeschoß hört er Stimmen und Gesang, dann vernimmt er einen Sturz und ein Röcheln, ein Schreien und ein Wimmern und dergleichen mehr. Ihm wird klar, daß in dem Raum am Ende des Flurs ein Verbrechen stattgefunden hat. In einem Augenblick des Schreckens und der Konfusion öffnet er die Tür und wird von einem Unbekannten auf den Fußboden gedrückt. Vaugham beteuert, er sei blind, er könne keinen der Verbrecher identifizieren, doch hört er die Beteiligten flüstern und ahnt nicht, was sie nun mit ihm tun werden.

Am nächsten Morgen, vielmehr in der Mittagsstunde, wird er in seinem eigenen Bett wach und vermutet, er habe all dies nur geträumt. Doch bald wird ihm klar, daß man ihn betäubt und irgendwo abgelegt hatte, er rekonstruiert die Geschehnisse immer wieder, auch die Stimmen und den Gesang einer jungen Dame, die nach dem Verbrechen schluchzend und schreiend zusammengebrochen war.

Unser Held muß im Laufe der Zeit immer wieder an die Geschehnisse in dem unbekannten Haus denken, doch sein Leben wird erneut auf den Kopf gestellt, denn sein Augenarzt ist von seiner langwierigen Reise zurück in London und bereitet die Operation vor. Der Eingriff gelingt und es dauert jedoch einige Monate, bis er seine Sehkraft wieder zurückerlangt hat. Dann beginnt Vaugham sein Leben zu genießen, er reist mit einem Freund durch Italien, und verliebt sich in Turin in eine ihm unbekannte Schönheit.

Der jungen Dame begegnet Vaugham Monate später in London zufällig auf der Straße. Er verfolgt sie unauffällig und lernt ihre Adresse kennen. In dem Hause mietet auch er eine Wohnung um so die junge Dame kennenzulernen. Pauline, die nur von einer alten Dienerin namens Therese begleitet wird, ist halb Engländerin, halb Italienerin. Therese bewacht sie wie ein Drachen sein rohes Ei, doch Therese ist der Bestechung zugänglich, und so beschließt Vaugham Therese zu seiner Vertrauten zu machen. Therese erklärt zwar, daß Pauline weder für die Liebe noch für die Ehe geschaffen sei, doch wolle sie sein Heiratsbegehren an den einzigen Verwandten weiterleiten, einen Doctor Ceneri in Genf.

Einige Wochen später meldet sich Ceneri in London, wobei dieser Vaugham rätselhafte Andeutungen macht und sich mit der Heirat einverstanden erklärt. Ceneri wolle nur, daß das Brautpaar bereits in drei Tagen heiratet, dabei scheint ihm der Wille Paulines gleichgültig zu sein. Vaughan ist mißtrauisch, doch so verliebt wie er ist, stimmt er allen Vorschlägen zu. Drei Tage später führt er seine Braut Pauline an den Altar und kurz darauf geht es in die Flitterwochen. Dabei stellt Vaughan fest, daß seine Angetraute offenbar ihre Vergangenheit vollkommen vergessen zu haben scheint und gegen ihren Gatten völlig gleichgültig ist – so wie sie gleich einer Somnambulen gegen alles gleichgültig ist und über keine eigene Willensbildung verfügt.

Vaugham ist enttäuscht und fühlt sich zurecht nicht geliebt. Aus Verzweiflung nimmt er Kontakt zu Vaugham auf, der bereits zurück nach Italien oder der Schweiz gereist ist. Vaugham sucht also den Onkel seiner Frau, und lernt einen unangenehmen Kerl kennen, der den Kontakt zu Ceneri herstellen will. Dieser dubiose Herr Macari war Vaugham einst in Turin aufgefallen, da dieser und Ceneri zum Umfeld von Pauline gehörten.

Um es kurz zu machen, bei Ceneri und Macari handelt es sich um Verschwörer, die an verschiedenen Verbrechen beteiligt sind, und die, wie der Leser schon seit einiger Zeit ahnt, diejenigen waren, die bereits den Mord in London in jenem geheimnisvollen Haus durchgeführt hatten. Vaugham ahnt allerdings erst sehr spät die Zusammenhänge und reist eines Tages quer durch Sibirien, da Ceneri dort vom russischen Staat zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Macari nämlich macht einige anzügliche Bemerkungen zu der Ehre beziehungsweise körperlichen Unversehrtheit Paulines, die vor ihrer Ehe einen Geliebten gehabt haben soll.

Vaugham erträgt diese Beleidigung nicht und reist nach Sibirien, wo es ihm gelingt mit Ceneri zu sprechen. Dort erfährt er die ganze Geschichte, nämlich wer der damals in London Ermordete gewesen ist und aus welchem Grund man ihn ermordet hatte. Dabei stellt sich auch heraus, daß Paulines Unschuld durchaus gegeben ist. Als Vaugham nach Monaten zurück in England ist, hat Pauline einen Großteil ihrer Erinnerungen wiedergefunden. Nachdem es noch zu einigen Mißverständnissen kommt, wird das Paar am Ende doch glücklich. Die Mörder von einst werden von der Kraft der Nemesis gerichtet.

Die Vorstellung, daß man von England nach Sibirien reist um festzustellen, ob die Braut noch unberührt sei, ist natürlich eine Vorstellung, die nur im Viktorianismus blühen konnte – und nur in jener Zeit ihre volle Würdigung erfuhr – während man heute eher belustigt ist über den Aufwand, der da betrieben wurde.

Der Roman folgt also den moralischen Vorstellungen der Engländer der 1880er Jahre, ist aber dennoch ein mitreißendes Buch, das allerdings in vielen Punkten vorhersehbar ist. Der Romanze wird insgesamt für meinen Geschmack etwas zu viel Raum gegeben, während die Spannungselemente wohldosiert Anwendung finden – und zum Glück verzichtet Conway auf die typische Kolportage dieser Zeit, wenngleich Spurenelemente auch davon in vielen Passagen zu finden sind.